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Rechtsstaatlichkeit

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Aktualität der Debatte

  • In Ungarn höhlt die amtierende Regierungspartei Fidesz seit 2011 planmäßig wichtige Grundlagen demokratischen gesellschaftlichen Lebens auf, indem sie z.B. Medien- und Verlagshäuser durch parteitreue Unternehmer aufkaufen und regierungskritischen Medien durch den von der Fidesz-kontrollierten ungarischen Medienrat Lizenzen entziehen lässt. Unabhängige Meinungsbildung wird dadurch erschwert.
  • In Polen können Richter wegen ihrer Urteile von einer Disziplinarkammer verurteilt werden, die von der amtierenden Regierungspartei PIS dominiert wird. Außerdem wurde mit einer Änderung der Pensionierungsgrenzen versucht, Richterstellen frei zu machen; bei der Neubesetzung der Stellen hat die polnische Regierungspartei viel Einfluss und kann die Unabhängigkeit der Judikative damit gefährden.
  • Korruption ist in einigen europäischen Ländern weiterhin ein großes Problem: In Süditalien gehen viele EU-Gelder an Mafia-Unternehmen, auch Bulgarien und Rumänien wurden im EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht 2020 für die großen Korruptionsprobleme heftig kritisiert. Aber auch deutsche Politiker sind – das zeigen die aktuellen Affären um Corona-Schutzmasken – gegen die Versuchung der „Vorteilsnahme im Amt“ nicht gefeit.

Hintergrundwissen

Rechtsstaatlichkeit ist einer der Grundwerte, auf denen die EU beruht (Artikel 2 des EU-Vertrags). Sie garantiert die Achtung der Grundrechte und aller anderen demokratisch beschlossenen Regeln und Gesetze. Sämtliche EU-Organe und die Regierungen, Verwaltungen und Gerichte der Mitgliedstaaten dürfen nur im Rahmen der EU-Verträge und demokratisch beschlossener Gesetze (die auf europäischer Ebenen Richtlinien und Verordnungen heißen) handeln. Ihre Entscheidungen müssen von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Rechtsstaatlichkeit umfasst auch die Bekämpfung von Korruption und den Schutz der Medienfreiheit. Sie stellt sicher, dass die Öffentlichkeit angemessen und ausgewogen über staatliche Maßnahmen und Handlungen der EU informiert wird.

  • Zur Rechtsstaatlichkeit gehört, dass die EU selbst, Organe, Behörden und Gerichte nicht willkürlich handeln, sondern nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und der ihnen zugewiesenen Aufgaben. Das regeln die Artikel 4 und 5 des EU-Vertrags. Dort steht auch, dass alle nicht der EU in den Verträgen ausdrücklich übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Allerdings hat dies den Nachteil, dass die EU auf vielen Gebieten nicht handeln oder die Aktionen der Mitgliedstaaten nur ergänzen darf, auch wenn sich dort Probleme ergeben. Das gilt zum Beispiel für die Gesundheitspolitik und war ein Grund dafür, dass das Handeln der EU bei der Bekämpfung der Coronakrise von Vielen als unzureichend und schwerfällig empfunden wurde.
  • Die EU-Grundrechtecharta enthält wichtige Rechte, die dem Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür dienen:
    • Artikel 41 gewährt das Recht auf eine gute Verwaltung, die unparteiisch sowie gerecht ist und innerhalb einer angemessenen Frist entscheiden und ihre Entscheidung begründen muss. Dazu gehört auch das Recht angehört zu werden, bevor eine für jemanden nachteilige Entscheidung getroffen wird
    • Artikel 47 gibt jedem das Recht gegen eine Verletzung seiner Rechte oder Freiheiten vor einem Gericht einen Rechtsbehelf einzulegen. Das Gericht muss abhängig, unparteiisch und durch ein Gesetz eingerichtet sein. Das Verfahren muss fair und öffentlich sein und in einer angemessenen Frist durchgeführt werden.
    • Artikel 48: „Jeder Angeklagte gilt bis zum förmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“
    • Artikel 49 verbietet die Bestrafung für eine Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war. Die Strafe darf auch nicht höher sein, als zur Zeit der Begehung der Tat gesetzlich vorgesehen. Das Strafmaß darf nie unverhältnismäßig sein.
    • Artikel 50 verbietet, jemanden wegen derselben Tat zweimal strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen.

Und wenn doch etwas schiefläuft? Kontroll­mechanismen auf EU-Ebene

Das Europäische Parlament kontrolliert – wie es sich in einer Demokratie gehört – die Exekutive, also die Kommission. Im Parlament gibt es einen Haushaltskontrollausschuss, der darüber wacht, dass mit den Finanzmitteln der EU ordnungsgemäß verfahren wird. Das überwachen auch der Europäische Rechnungshof und das Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF). Vermutet das Parlament Missstände, so kann es einen Untersuchungsausschuss bilden. Als schärfstes Mittel kann das Parlament die Kommission absetzen. Dass dies nicht nur eine theoretische Möglichkeit ist, zeigte sich im März 1999, als das Parlament die Kommission zum Rücktritt zwang, weil dort eine Vizepräsidentin Bekannte mit gut bezahlten Posten versorgt hatte, für die sie nicht qualifiziert waren.

Der unabhängige Europäische Gerichtshof (EuGH) hat unter anderem die Aufgabe, die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte und Handlungen aller EU-Institutionen zu überwachen, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten haben. So kann vom Gerichtshof geprüft werden, ob die EU für Gesetzgebung auf einzelnen Gebieten überhaupt zuständig ist. Zum Beispiel hat das Gericht auf Antrag des (inzwischen aus der EU ausgetretenen) Vereinigten Königreichs einst festgestellt, dass das in einer Verordnung enthaltene Sonntagsarbeitsverbot unzulässig war. Begründung: Dafür ist der EU durch den EU-Vertrag keine Zuständigkeit übertragen.

Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten der EU

Nur Staaten, die die EU-Standards in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erfüllen, können in die EU aufgenommen werden. Daher sind z.B. die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf unbegrenzte Zeit ausgesetzt, weil sich das Land in den vergangenen Jahren immer weiter von diesen Standards entfernt hat.

In einigen EU-Staaten ist die Rechtsstaatlichkeit aktuell bedroht. Die größte Gefahr besteht, wenn Regierungen nicht die Unabhängigkeit der Justiz respektieren. Denn unabhängige Gerichte sind die beste Garantie für die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit. Um ihrer Bedrohung vorzubeugen, veröffentlicht die Europäische Kommission jährlich einen Bericht zur Rechtsstaatlichkeit. Darin werden sowohl positive als auch negative Entwicklungen in den Mitgliedstaaten beobachtet. Der Bericht umfasst vier Pfeiler: das Justizsystem, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus sowie institutionelle Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Der Gesamtbericht 2020 und die Analysen für die einzelnen EU-Staaten können hier heruntergeladen werden.

Was passiert aber, wenn ein Land nach seinem EU-Beitritt seine Verpflichtungen aus den EU-Verträgen, insbesondere auf dem Gebiet der Grundrechte und Werte verletzt? Hier ist die Europäische Kommission gefordert, die oft als „Hüterin der Verträge“ bezeichnet wird. Sie muss darauf achten, dass die Mitgliedstaaten das gemeinsam Vereinbarte und Beschlossene auch einhalten und umsetzen.

Werden dabei Mängel festgestellt, so wird der Mitgliedstaat zur Behebung aufgefordert. Folgt der Staat dem nicht, eröffnet die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihn. Meist führt das dazu, dass die Staaten ihr Verhalten korrigieren. Wenn nicht, folgt ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Bestätigt dieser, dass der Staat gegen EU-Recht verstößt und ändert der Staat sein Verhalten nicht, so kann er zu einer Geldbuße oder Zwangsgeld verurteilt werden.

So befindet sich z.B. Deutschland seit Jahren im Streit mit der EU-Kommission um die Umsetzung der sogenannten Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, mit der die Naturschutzgebiete der EU besser miteinander verknüpft und geschützt werden sollen. Die Kommission wird demnächst ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen. Im Fall Ungarns hat der EuGH z.B. sowohl das Medien- als auch das Hochschulgesetz bereits als nicht vereinbar mit EU-Recht verurteilt. Da die ungarische Regierung jedoch keine Änderungen an diesen Gesetzen vornehmen will, wird die Europäische Kommission nun in einem Verfahren vor dem EuGH beantragen, Strafzahlungen gegen Ungarn zu verhängen.

Handelt es sich bei dem Verstoß um eine Verletzung der in Artikel 2 des EU-Vertrags genannten Werte oder besteht auch nur die eindeutige Gefahr einer schweren Verletzung dieser Werte, kann nach Artikel 7 des EU-Vertrags die härteste Sanktion verhängt werden, die der EU-Vertrag vorsieht: Die Rechte des Staates können bis zur Behebung des Mangels ausgesetzt werden. Das bedeutet, dass die Zahlungen von Finanzmitteln aus EU-Programmen eingestellt werden und der Staat kein Stimmrecht mehr im Ministerrat hat. Aber alle Pflichten, vor allem zur Zahlung seines Beitrags zum EU-Haushalt und die Pflicht, alle gemeinsam beschlossenen Regeln zu beachten, bleiben bestehen. Allerdings hat dieses Verfahren einen Nachteil: Die Feststellung, dass ein Staat die Werte verletzt, muss von allen anderen Staaten einstimmiggetroffen werden. Das funktioniert allerdings dann nicht, wenn mehrere Länder den Respekt vor den Werten nicht ernst nehmen und sich gegenseitig bei Abstimmungen unterstützen. Deshalb kam dieses letzte Mittel in der bisherigen Geschichte der EU noch nicht zur Anwendung.

Umso wichtiger ist eine Neuerung die erst seit Anfang 2021 gilt: Bei Missachtung der Werte und fehlender Rechtsstaatlichkeit können einem Staat die Mittel aus EU-Förderprogrammen gesperrt werden, und dafür bedarf es keiner einstimmen Entscheidung. Das ist besonders für Staaten, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage hohe Zahlungen von EU erhalten, eine sehr ernst zu nehmende Sanktion. Ungarn und Polen klagen vor dem EuGH gegen diesen „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“, denn er ist in den EU-Verträgen so nicht vorgesehen.

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